Die Wissenschaft kennt derzeit rund 32.000 Fischarten, in Wirklichkeit existieren vermutlich mindestens zwei bis drei mal so viele Arten. Woher man das wissen will? Nun, das sind natürlich nur Schätzungen. Aber diese Schätzungen beruhen auf Erfahrungen. Bei den Prachtguramis (Parosphromenus) kannte man aus dem Forschungszeitraum 1750- 1950 – also rund 200 Jahre lang – nur eine Art (P. deissneri), dann kam 1952 (P. paludicola) und 1955 (P. sumatranus) jeweils eine weitere hinzu. Dabei blieb es bis 1979 (P. parvulus) und 1981 (P. filamentosus). Dadurch angeregt zog es Aquarianer und Wissenschaftler nach Malaysia und die indomalaiische Inselwelt auf der Suche nach weiteren Arten und heute (2023) sind wir bei 23 Arten, also 4-5x so viele Arten, als man noch vor 50 Jahren dachte. Und das bei einer sehr kleinräumig verbreiteten Fischgruppe aus einer ichthyologisch sehr gut untersuchten Region! Ähnlich sieht es überall aus, wo man genauer hinschaut. Und große Teile der Erde, nämlich die Tiefsee, sind noch immer praktisch unerforscht. Auch dort leben Fische. Somit ist die Schätzung, dass erst etwa ein Drittel der tatsächlich existierenden Arten erfasst ist, sogar sehr niedrig gegriffen!
Parosphromenus gunawani (oben) wurde 2012 beschrieben, P. linkei (unten) im Jahr 1991
Jede dieser Arten unterscheidet sich nicht nur äußerlich von allen anderen Arten, sondern auch im Verhalten. Das Verhalten einer Kleinfischart lässt sich nur im Aquarium ausführlich beobachten, nur hier lässt sich zudem die Anzahl der Faktoren, die die Beobachtung verfälschen können, so einschränken, dass verlässlicher Erkenntnisgewinn möglich ist.
In freier Natur entziehen sich Kleinfische gewöhnlich der Beobachtung durch den Menschen. Ganz abgesehen davon, dass trübes Wasser, die Kleinheit der Objekte, deren Fluchtdistanz und der zu treibende Aufwand ein solches Unterfangen in der Praxis unmöglich machen, bleiben Naturbeobachtungen immer nur kurze Momentaufnahmen.
Verglichen mit der riesigen Artenzahl der Fische werden nur wenige Arten ständig im Aquarium gepflegt – etwa 300 – 400 Arten. Nur weitere 1.000 bis 1.500 Arten sind als Raritäten im Hobby bekannt. Übrigens sind etwa die Hälfte der existierenden Fischarten Süßwasserfische, obwohl weltweit nur etwa 3% der Wasservorkommen auf das Süßwasser entfallen. Die als artenreich bekannten Korallenriffe der Erde beherbergen „nur“ rund 1.000 Fischarten. Da haben schon viele Nebenflüsse des Amazonas mehr zu bieten…
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Wozu diese Zahlenspielerei? Sie soll verdeutlichen, was beobachtende und züchtende Aquarianer noch alles zum Menschheitswissen beitragen können. Von weit mehr als 90% der bekannten Fischarten weiß man kaum mehr, als dass sie existieren. So sollte man jede Gelegenheit nutzen, die sich bietet, um so genannte Raritäten oder Beifänge zu erwerben und zu studieren.
Eine solche Rarität ist Rhabdalestes septentrionalis. Die abgebildeten Tiere wurden im Juni 2012 von Aquarium Glaser, Rodgau, als Beifang zu Bryconalestes longipinnis aus dem Niger importiert. Rhabdalestes septentrionalis – es gibt keinen eingeführten deutschen Namen für die Art, ich schlage „Afrikanischer Kupferbandsalmler“ vor – ist ein Verwandter des Kongosalmlers (Phenacogrammus interruptus). In der Natur ist er keineswegs selten und zudem sehr weit im westlichen, tropischen Afrika verbreitet. Und doch wurde noch nie über eine Aquarienhaltung, geschweige denn Zucht dieser kaum 6-7 cm lang werdenden Art berichtet. Dabei gestaltet sich zumindest die Haltung sehr einfach. Es handelt sich um friedliche Schwarmfische ohne besondere Ansprüche an pH-Wert oder Wasserhärte, die zudem jedes übliche Fischfutter fressen – auch Trockenfutter – und sich als robust und kaum krankheitsanfällig zeigen.
Die Männchen dieser Art entwickeln ab einer Länge von etwa 4 cm – diese Größe markiert demnach wahrscheinlich den Eintritt der Geschlechtsreife, die bei Fischen allerdings immer an das Alter und nicht an die Körpergröße gebunden ist – eine ganz seltsam geformte Afterflosse. Höchstwahrscheinlich steht diese anatomische Veränderung im Dienste der Fortpflanzung. Handelt es sich womöglich um eine Vorrichtung für eine innere Befruchtung? Niemand weiß das und bevor nicht ein beobachtender Aquarianer (sei die Person nur Laie oder Ichthyologe) sich vornimmt, das im Aquarium zu erforschen, wird es auch nie jemand erfahren…
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Rasbora patrickyapi, Männchen
Überall auf der Welt schwimmen kleine Fischarten umher, die auf ihre ganz spezielle Art und Weise einzigartig sind. Die Erfassung ihrer Existenz ist ein erster Schritt zu ihrer Erforschung. Der in Südostasien lebende Rasbora patrickyapi ist ein weiteres Beispiel für eine praktisch unbekannte Art, die Dank der Aquarienkunde entdeckt wurde und an der es noch viel zu erforschen gilt.
Die Schwarzwassergebiete des zentralen Teils von Kalimantan, dem indonesischen Teil der Insel Borneo, bergen noch immer zahlreiche ungehobene Schätze aus dem Reich der Fische. Häufig treten neue, unbekannte Fischarten über den Weg des Zierfischhandels in das Bewusstsein der Ichthyologen. So auch im Falle des schönen Bärblings Rasbora patrickyapi, einer etwa 5 bis 6 cm langen Schwarzwasserart.
Ende 2007 besuchte der Wissenschaftler Tan Heok Hui die Anlage des in Singapur ansässigen, sehr rührigen Zierfischexporteurs Patrick Yap und fand zwischen Rasbora kalochroma eine neue, ihm unbekannte Bärblingsart. Auf den ersten Blick erinnerte das Tier farblich am ehesten an die weit in Südostasien verbreitete Art Rasbora einthovenii, eingehendere Untersuchungen zeigten aber, dass die neue Art offenbar auch eng mit der syntop lebenden Rasbora kalochroma verwandt ist. Tan beschrieb das Tier schließlich 2009 zu Ehren von Patrick Yap als neue Art.
Weibchen von Rasbora patrickyapi
Die sorgfältige Untersuchung von Museumsmaterial zeigte, dass Belegexemplare der Art bereits 1984 im Museum Zoologicum Bogoriense in Indonesien deponiert worden waren; man erkannte sie anhand konservierter Exemplare nur nicht als neue Art. Wie so oft ist es darum der Aquarienkunde zu verdanken, dass unser Wissen um die Biodiversität weiter angewachsen ist. Bislang ist Rasbora patrickyapi nur aus Tieflandtorfsümpfen und Heidewäldern im zentralen Kalimantan im Einzugsgebiet der Flüsse Katingan und Kahayan bekannt.
Die Fische haben sich als vergleichsweise leicht zu pflegende Tiere erwiesen. Man muss bei Schwarzwasserfischen allerdings grundsätzlich beachten, dass diese Tiere in ihren Heimatbiotopen in extrem weichem und sauren Wasser leben. Diese Wasserbedingungen brauchen die Fische zwar nicht zum Wohlbefinden, jedoch ist das Wasser im natürlichen Lebensraum vor allem aufgrund des sauren pH-Wertes sehr keimarm. Einem hohen Keimdruck im Aquarienwasser haben die Fische wenig entgegenzusetzen, wenn ihre natürlichen Abwehrkräfte aufgrund der suboptimalen Bedingungen während des Fanges und Transportes vermindert sind. Bakteriosen und ektoparasitäre Erkrankungen können die Folge sein. Man sollte also während der Eingewöhnung solcher Fische auf möglichst sauberes, keimarmes Wasser achten, ein kräftiger UV-Filter leistet hier sehr gute Dienste und ein gutes Medikament gegen Ektoparasiten sollte auch stets zur Hand sein. Ist die etwas heikle Eingewöhnung überstanden sind die Fische durchaus als unempfindlich zu bezeichnen, die sogar im Fotografieraquarium schöne Farben zeigen und balzen.
Rasbora patrickyapi (oben) ist R. einthovenii (unten) ähnlich.
Über eine erfolgreiche Nachzucht im Aquarium ist m.W. noch nicht ausführlich berichtet worden, jedoch ist nicht zu erwarten, dass die Fische in dieser Hinsicht von ihren Gattungsgenossen abweichen. Es handelt sich aller Wahrscheinlichkeit nach um produktive Freilaicher, die in Javamoos und dergleichen ablaichen. Männchen sind schlanker als die Weibchen, erstere haben zudem einen höheren Rotanteil in der Färbung der Flossen. Für eine erfolgreiche Zucht ist es allerdings wahrscheinlich notwendig, ein Wasser von weniger als 2°GH bei einem pH von etwa 4,5 zu verwenden, was den in der Natur üblichen Wasserwerten entspricht. Für die Pflege spielen Härte und pH-Wert allerdings eine untergeordnete Rolle. Rasbora kalochroma, die aus dem gleichen Lebensraum wie R. patrickyapi stammt, lebt schon seit Jahren bei bester Gesundheit in einem Schauaquarium in der Hottonia, dem darmstädter Verein für Aquarien- und Terrarienkunde, im harten darmstädter Leitungswasser (17-20°GH, 12-13° KH, pH 7,3 – 7,7).
Rasbora kalochroma
Rasbora patrickyapi ist eine farblich sehr attraktive, friedliche und kleinbleibende Art. Pflanzen bleiben unbehelligt, die Tiere sind mit käuflichen Fischfutter gut und leicht zu ernähren. Bleibt zu hoffen, dass der neuen Schönheit eine lange aquaristische Karriere bevorsteht.
Raritäten wie Rhabdalestes septentrionalis und Rasbora patrickyapi sind nur deshalb Raritäten, weil eine geringe Nachfrage nach ihnen besteht. Bei Bedarf könnte man sie leicht zu hunderttausenden züchten. Doch dieser Bedarf existiert nicht. Es gibt eine kleine, leider schrumpfende Schar enthusiastischer Aquarianer. Sie werden von dummen Menschen angefeindet und es wird mit unsäglichen Behauptungen, die keiner Prüfung auch nur ansatzweise standhalten, versucht, ihnen die Erforschung der Kleinfischwelt unmöglich zu machen. Wenn Sie, lieber Leser, zu dieser Schar von Fische erforschenden Idealisten zu zählen sind: geben Sie bitte nicht auf! Suchen Sie weiter im immer kleiner werdenden Angebot von Wildfängen nach Beifängen und Raritäten, pflegen Sie sie im Aquarium und ggf. züchten Sie sie auch nach, um ihnen die Geheimnisse ihrer Lebensgeschichte zu entlocken. Kommende Generationen werden es ihnen danken, wenn auch sie noch eine große Artenvielfalt bei den Kleinfischen kennenlernen können.
Frank Schäfer
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