Eine dicke Lippe riskiert? Crenicichla tuca, früher C. sp. „Botox“

Die Hechtbuntbarsche oder Kammbuntbarsche (Crenicichla) stellen die artenreichste Gattung der südamerikanischen Buntbarsche dar. 140 wissenschaftliche Bezeichnungen werden ihr zugeordnet, 93 Arten gelten als gültig beschrieben, die Aquarianer kennen jedoch noch erheblich mehr Arten, die wissenschaftlich noch nicht beschrieben sind – oder, mit anderen Worten, offiziell gar nicht existieren.

Zu letzteren zählte bis 2015 eine seltsame Art, die bisher nur aus dem Rio Iguassu (= Iguazú River) bekannt ist und die im internationalen Tierhandel – sofern man im diesem Falle, wo es um deutlich weniger als 50 Exemplare pro Jahr weltweit geht, überhaupt von Handel reden will – als Crenicichla sp. ‚Botox‘ bezeichnet wurde. Diese Bezeichnung wurde wegen der extrem aufgetriebenen Lippen der Art gewählt, die die Aquarianer an Menschen erinnert, die um vermeintlicher Schönheitsideale willen ihren Körper und ganz besonders ihr Gesicht (damit auch die Lippen) durch Chemikalien verändern lassen, u.a. durch eines der stärksten Gifte, die die Natur je entwickelt hat, das Gift des Bakteriums Clostridium botulinum, das Botulinum-Toxin oder kurz: Botox.

Aufgetriebene Lippen sind bei Buntbarschen an sich nichts Besonderes. Es gibt sie bei zahlreichen, keineswegs nahe miteinander verwandten Arten. In Mittelamerika schwimmt Amphilophus labiatus, ein Verwandter der so genannten Midas-Cichliden, die nach dem mythischen König Midas ihren Populärnamen erhielten. König Midas hatte einen Wunsch frei und wünschte sich, dass alles, was er berührte, zu Gold werden sollte. Sein Wunsch wurde erfüllte und er verhungerte beinahe… Die Midas-Cichliden beginnen ihr Leben als unscheinbare, grau-blau gefärbte Buntbarsche und färben sich mit zunehmendem Alter in strahlendes Goldgelb um, daher der Name.

In Ostafrika gibt es Haplochromis labiatus in den Seen Edward und George und im Tanganjikasee lebt Lobochilotes labiatus, im Malawisee Melanochromis labrosus, um nur einige zu nennen. Auch in der Gattung Crenicichla kennt man bereits einen Wulstlippenbuntbarsch, nämlich Crenicichla tendybaguassu aus dem Uruguay-Fluss (Argentinien, Brasilien und Uruguay), also der unmittelbaren Nachbarschaft des ‚Botox‘.

Crenicichla tuca, Totale, Männchen

Allen gemeinsam ist, dass kein Mensch eine Ahnung hat, wozu die aufgetriebenen Lippen gut sein sollen. Thesen gibt es viele, zur Theorie weiterentwickelt  oder gar bewiesen werden konnte bislang keine davon. Die verbreitetste besagt, dass die Wulstlippenbuntbarsche mit ihren aufgetriebenen Lippen Felsspalten abdichten und so darin versteckte Beutetiere (kleine Fische etc.) ergattern.

Ausschließen kann man, dass die dicken Lippen das Ergebnis kämpferischer Handlungen sind. Es gehört zwar zu den völlig normalen Kampfhandlungen bei Buntbarschen, miteinander Maulzerren zu praktizieren. Das ist in etwa  vergleichbar dem Fingerhakeln beim Menschen: manchmal schmerzhaft, aber grundsätzlich harmlos, wenngleich unbedingt ernst gemeint. Allerdings endet das Maulzerren zwar häufig in zerfransten, niemals aber aufgetriebenen Lippen. Und so kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass die zwei Crenicichla sp. ‚Botox‘, die Aquarium Glaser 2012 aus Argentinien nach Deutschland importieren konnte, zwar offensichtlich eine seltsame Laune der Natur darstellten, aber eine, die wir Menschen bislang nur achselzuckend – und damit ohne Verständnis – registrieren können.

Im Jahr 2015 wurden die Hechtbuntbarsche des Iguassu bearbeitet und zwei neue Arten beschrieben, darunter unser „Botox“ als Crenicichla tuca und eine weitere Art als C. tapii. Zudem kommen zwei bereits länger bekannte Arten gemeinsam mit ihnen vor, nämlich C. iguassuensis und C. tesay. Von den vier Arten hat nur C. tuca die aufgetriebenen Lippen. Der Artname „tuca“ wurde gewählt, weil die Erstbeschreiber sich von den gewaltigen Lippen an den riesigen Schnabel der Tukan-Vögel erinnert fühlten.

Gegenwärtig (2018) erfolgen keine Importe der Art, doch kann sich das jederzeit wieder ändern.

Frank Schäfer

Literatur:

Piálek, L., K. Dragová, J. R. Casciotta, A. E. Almirón & O. Říčan (2015): Description of two new species of Crenicichla (Teleostei: Cichlidae) from the lower Iguazú River with a taxonomic reappraisal of C. iguassuensis, C. tesay and C. yaha. Historia Natural v. 5 (no. 2) (for 27 May): 5-27.

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Über den Autor Frank Schäfer

Frank Schäfer, geboren 1964, Biologe, seit frühester Jugend Tier- und Pflanzenhalter aus Leidenschaft. Sein besonderes Interesse gilt seit jeher den Fischen, aber Reptilien, Amphibien, Wirbellose, Kleinsäuger und Vögel sowie eine Vielzahl von Pflanzen begeistern ihn ebenso.

Seit 1980 Mitglied im Verein für Aquarien- und Terrarienkunde Hottonia e.V., dort seit 1982 auch immer wieder Vorstandsämter (Gartenwart, Redakteur der Vereinszeitschrift, 1. Schriftführer), seit 1982 Mitglied in der Internationalen Gemeinschaft für Labyrinthfische (IGL), seit 1992 auch im European Anabantoid Club (EAC). Erste Fachartikel über Pflege und Zucht von Puntius vittatus, Macropodus opercularis, Trionyx ferox und Polypterus senegalus in der Hottonia-Post 1981; erste große Fischfangreise in die Tropen 1983 nach Sumatra, worüber anschließend zahlreiche Aufsätze in der Hottonia-Post, der Zeitschrift „Der Makropode“ und „Das Aquarium“ erschienen; von da an regelmäßig Publikationen in vielen aquaristischen Fachzeitschriften, sowohl national wie auch international. Seither außerdem jährlich mehrere Dia-Vorträge auf nationalen und internationalen Tagungen.

Studium der Biologie in Darmstadt von 1984-1989, Abschluss als Diplom-Biologe mit den Prüfungsfächern Zoologie, Botanik, Ökologie und Psychologie. Diplomarbeit bei Prof. Ragnar Kinzelbach zum Thema „Wirtspezifität der Glochidien von Anodonta anatina“.

Zahlreiche Fang-, Sammel- und Studienreisen in das europäische Ausland, die Türkei, Sambia und vor allem Indien; Forschungsschwerpunkt ist die Süßwasserfischfauna des Ganges mit dem Ziel einer kompletten Revision der Arbeit von Francis Hamilton (1822): An account of the fishes found in the river Ganges and its branches. Edinburgh & London. Wissenschaftliche Erstbeschreibung von Oreichthys crenuchoides und gemeinsam mit Ulrich Schliewen von Polypterus mokelembembe. Wissenschaftliche Besuche und kurzzeitige Arbeiten in den zoologischen Sammlungen von London, Paris, Brüssel, Tervueren, Wien, Berlin, Frankfurt und München.

Seit 1996 bis heute Redakteur bei Aqualog und wissenschaftlicher Mitarbeiter zur Fischbestimmung bei Aquarium Glaser, Rodgau. In dieser Zeit verantwortlich als Autor oder Co-Autor von über 20 Büchern und über 400 größeren Fachartikeln, nicht nur bei Aqualog, sondern bei nahezu allen deutschsprachigen Fachverlagen, vereinzelt auch in internationalen Publikationen. Seit 2009 Betreuung der Homepage und des Newsletters bei Aquarium Glaser mit 3-5 Posts pro Woche. Nach wie vor leidenschaftlicher Tier- und Pflanzenpfleger, quer durch den Gemüsegarten: Aquaristik (Süß- und Seewasser), Terraristik, Teichpflege, Kleinvögel.

Frank Schäfer ist verheiratet und hat zwei Töchter, die 1989 und 1991 geboren wurden.

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