Kryptozoologie in Hessen
Die Krytozoologie ist ein besonders interessanter, aber auch etwas anrüchiger Bereich der Zoologie. Sie beschäftigt sich mit der Suche nach mythischen, unentdeckten oder verschollenen, ausgestorben geglaubten Tierarten. Kryptos bedeutet „versteckt, verborgen“. Auf diesem Gebiet tummeln sich teils absonderliche Menschen, die den Objekten ihrer Begierde an Merkwürdigkeit oft kaum nachstehen, aber auch ernsthafte Wissenschaftler.
Es kann nicht bezweifelt werden, dass die Kryptozoologie im vergangenen Jahrhundert noch große Erfolge feierte. Das Okapi, eine afrikanische Waldgiraffe, wurde als eines der letzten Großtiere erst 1901 entdeckt; das Zwergflusspferd galt fast zwanzig Jahre als ausgestorben, bis es auf Initiative von Hagenbeck 1912 wieder entdeckt werden konnte. Und – ebenfalls vom schwarzen Kontinent – auch die Entdeckung des sagenumwobenen Kongopfaus ist ein Erfolg der Kryptozoologie. 1936 anhand von ein paar Federn aus dem Kopfschmuck von Einheimischen entdeckt, gelang erst in den 1950er Jahren der Fund lebendiger Individuen.
Auch in Europa konnte die Kryptozoologie schon erstaunliche Erfolge feiern. So hielt man im 19. Jahrhundert den Waldrapp, eine Ibis-Art, die Conrad Gessner 1555 beschrieb, für ein Fabelwesen, vergleichbar dem Einhorn oder der Sphinx, bis gezeigt werden konnte, dass diese Art sogar bis in die Jetztzeit überlebt hat. Aber selbstverständlich gibt es auch viel Unfug im Bereich der Kryptozoologie, wie z.B. das Monster von Loch Ness.
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Die Europäische Sumpfschildkröte, Emys orbicularis, galt bis vor wenigen Jahren für ein Musterbeispiel einer enorm weit verbreiteten, dabei aber ziemlich einheitlichen Art. Nicht einmal Unterarten wurden anerkannt. Von Nordafrika über weite Teile Europas bis nach Westasien kommen diese Schildkröten vor. Ich weiß noch zu gut, wie ich vor meinem Zoologie-Schulbuch sitzend davon träumte, dieses sagenhafte, laut meinem Schulbuch in Deutschland so gut wie ausgestorbene Reptil auf einem meiner Streifzüge durch die Natur zu finden. Nun ja. Ich fand zwar alles mögliche Viehzeug, aber die Europäische Sumpfschildkröte war nicht dabei. Das ist nicht weiter verwunderlich. In der südhessischen Mittelgebirgslandschaft, in der ich aufwuchs, gab es wohl nie Europäische Sumpfschildkröten. Aber ich war sicher nicht der einzige, der diesen Traum träumte.
Obwohl Robert Mertens, einer der bedeutendsten Reptilienforscher Deutschlands, bereits 1947 feststellte, dass alle gegenwärtigen Funde der Europäischen Sumpfschildkröte im Rhein-Main-Gebiet auf zufällige oder absichtliche Aussetzungen zurückzuführen sind, wollten das viele nicht glauben. So wie alle Jubeljahre wieder Nessie im Loch Ness gesichtet wird, so wollen einige Unentwegte eben gerne glauben, dass zufällig aufgefundene Europäische Sumpfschildkröten oder gar frischgeschlüpfte Exemplare auf eine bisher übersehene, im verborgenen überlebende einheimisch-hessische Population zurückzuführen seien.
Eine wissenschaftlich fundierte Arbeit zu diesem Thema lieferte Kinzelbach (1988). Betrachtet man die Fakten nüchtern, so kann man zu keinem anderen Ergebnis kommen als dem, dass die Europäische Sumpfschildkröte in Hessen (und allen anderen Teilen Deutschlands mit Ausnahme des Vorkommens in der mittleren Oder) im 18. Jahrhundert ausstarb. Das Aussterben im Rhein-Main-Gebiet war vermutlich eine Kombination von Massenfängen zu Speisezwecken – die Art war z.B. im 16. Jahrhundert in Speyer so häufig, dass sie als Fastenspeise des kleinen Mannes gelten konnte – und klimatischen Veränderungen. Das vermutete endgültige Aussterben der Art im südlichen Deutschland fällt in auffälliger Weise mit der „kleinen Eiszeit“ von 1670 bis 1730 zusammen. Die Kombination von Massenfängen und vielen kalten Sommern nacheinander, in denen sich die Art nicht vermehren konnte, gaben ihr den Todesstoß.
Bereits ab dem 17. Jahrhundert erfolgten darum Importe der Europäischen Sumpfschildkröte aus anderen Ländern zu Speisezwecken, ab dem späten 19. Jahrhundert auch zum Zwecke der damals gerade entstehenden Terrarienhaltung. Schon immer entkamen dabei Exemplare oder wurden absichtlich ausgesetzt. Im Enkheimer Ried nahe bei der Großstadt Frankfurt a. M. gibt es seit den 1940er Jahren eine reproduzierende Population. Aber diese Tiere sind keine einheimischen Vertreter der Art, ihr Vorkommen keine erfolgreiche Wiederansiedlung. Es handelt sich um einen menschgemachten Freiluftzoo ohne jeden ökologischen Sinn und Wert. Zu glauben, man helfe damit einer bedrohten Tierart, ist lächerlich. Das ist genau so, als würde man 10 Pudel in den Wald jagen und sich dann damit brüsten, man habe den vom Aussterben bedrohten Wolf wieder angesiedelt. Eine einmal ausgestorbene Tierart soll man nicht wieder ansiedeln. Man kann und soll lediglich die zerstörten Lebensräume renaturieren, wovon immer sehr viele Arten und auch der Mensch profitieren. Über Biotop-Korridore (die gegebenenfalls anzulegen sind) können von alleine auch solche Arten wieder einwandern, die verschwunden waren. Und diese Einwanderer sind dann auch ohne Zutun des Menschen überlebensfähig. Gute Beispiele hierfür sind Biber, Luchs, Uhu, Fischotter und Wolf, allesamt Arten, die vor 50 Jahren in Deutschland verschwunden waren und heute teils wieder ausgesprochen häufig sind.
Doch die Träumerle wollen solche Wahrheiten nicht hören. Sie glauben in bester Kryptozoologen-Manier immer noch fest an original hessische Europäische Sumpfschildkröten. Als neuestes Argument wird dabei die DNS angeführt. Die Möglichkeit, dank der rasanten Entwicklung, die die Biochemie in diesem Bereich gemacht hat, kostengünstig die DNS auf verwandtschaftliche Beziehungen von Tieren untereinander zu untersuchen (im Prinzip funktioniert das wie ein Vaterschaftstest), hat zu vielen, neuen Einblicken auch der Reptiliensystematik geführt. Und was man bis in die 1990er Jahre als eine einzige, weit verbreitete Art sah, nämlich die Europäische Sumpfschildkröte, wurde jetzt in viele Untereinheiten aufgesplitted – dank der DNS-Untersuchungen! Heute unterscheidet man mindestens 8 (zeitweise sogar bis zu 14) Unterarten plus eine zusätzliche Art. Äußerlich sind sie für Laien nicht unterscheidbar. Alle Formen sind im Terralog Schildkröten der Welt Teil 1 abgebildet.
Man fand anhand der weiblichen Erblinien (mitochondriale DNS) heraus, dass in Hessen gefundene Europäische Sumpfschildkröten (aus der Umgebung von Bensheim; das ist lustigerweise kaum 30 km von der Gegend entfernt, in der ich als Junge nach ihr suchte) einer Erblinie entsprechen, die heutzutage natürlicherweise noch an der nördlichen Mittelmeerküste der iberischen Halbinsel, Süd- und Zentral-Frankreich, der Donau-Tiefebene und der südlichen Balkan-Halbinsel gefunden wird. In dieser West-Ost-Verbreitung klafft eine Lücke. Diese Lücke umfasst das südliche Deutschland, die Tschechische Republik und die Schweiz. In allen drei Ländern ist die Europäische Sumpfschildkröte längst ausgestorben. Es ist nahezu unmöglich, dass ausgerechnet in Süd-Hessen, einem der am dichtesten besiedelten Landesteile Deutschlands, eine bodenständige Population der Europäischen Sumpfschildkröte unbemerkt überlebt hat. Es ist hingegen extrem wahrscheinlich, dass in den 1980er Jahren Europäische Sumpfschildkröten aus Jugoslawien oder Südfrankreich als Urlaubsmitbringsel an die Bergstraße kamen und entweder entwischten oder ausgesetzt wurden. Es gibt aller Wahrscheinlichkeit nach keine bodenständigen hessischen Europäische Sumpfschildkröten. Punkt. Auswildern ist Unsinn. Nochmal Punkt!
Aber es ist ganz interessant, was mit den Bensheimer Schildkröten passierte. Man brachte sie nämlich in den Frankfurter Zoo, wo sie üppig nachgezüchtet werden. Und diese Nachzuchten wildert man aus (zu gut deutsch: jagt Pudel in den Wald). Denn soviel hat die Terrarienkunde geschafft: die Pflege und erfolgreiche Nachzucht von Europäische Sumpfschildkröten ist heutzutage kein Problem mehr. So kann auch jeder, der möchte, für wenig Geld Nachzuchttiere kaufen. Wer es ganz genau wissen will, kann sogar die mitochondriale DNS untersuchen lassen und erfährt so, wo die Mutter einmal herkam. Aber diese mitochondrialen DNS-Untersuchungen haben einen entscheidenden Nachteil: Mischlinge kann man damit nicht erkennen. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass unsere Terrarienbestände allesamt Hybridbestände sind.
Wer also Freude an Europäischen Sumpfschildkröten hat, soll sie im Terrarium oder im Gartenteich pflegen. Das ist nicht schwer. Sie sind vorwiegend Fleischfresser. In ausreichend großen Gartenteichen kann man darum sogar Sumpf- und Wasserpflanzen kultivieren, obwohl darin Europäische Sumpfschildkröten leben. Das ist ein entscheidender Vorteil gegenüber den nordamerikanischen Schmuckschildkröten, die mit zunehmendem Alter immer mehr zu Vegetariern werden und jedes Pflänzlein gnadenlos niedermachen. Erwachsene Männchen der Europäischen Sumpfschildkröte sind untereinander manchmal sehr unverträglich. Man sollte darum nur ein Männchen mit einigen Weibchen pflegen, auch wenn es schon häufig vorkam, dass mehrere Männchen friedlich zusammenlebten. Leider kann man bei Jungtieren die Geschlechter nicht unterscheiden. Aber da – wie bei den meisten Schildkröten – das Geschlecht über die Bebrütungstemperatur der Eier gesteuert werden kann, ist die Mehrzahl der angebotenen Tiere weiblich. Die mittlere Bruttemperatur, bei der das Geschlechterverhältnis ausgeglichen ist, liegt bei 28,5°C, darunter entstehen mehr Männchen, darüber mehr Weibchen. Als optimale Bruttemperatur haben sich 29-30°C bewährt.
Weil man die Geschlechter bei Babies noch nicht erkennen kann und weil im Laufe der Jahre – immerhin kann so eine Emys 70 Jahre und älter werden – doch immer wieder einmal Verluste einzukalkulieren sind, sollte man von vornherein nicht weniger als fünf Exemplare kaufen. Besonders, wenn es gelingt, wirklich reinblütige Exemplare zu ergattern (das ist wie ein Sechser im Lotto!). Es ist im Nachhinein schwierig bis unmöglich, genetisch passende Exemplare nachzukaufen. Das ist auch der Grund, weshalb leider fast alle Emys in Gefangenschaft Mischlinge sind.
Babies zieht man am besten auch von Anfang an im Freien auf. Wenn Schwächlinge sterben, ist das gut so. Da Naturentnahmen von Europäischen Sumpfschildkröten zu Haltungs- und Handelszwecken seit 30 Jahren streng verboten sind und in absehbarer Zeit auch nicht möglich sein werden, sind wir darauf angewiesen, nur wirklich kerngesunde Tiere erwachsen werden zu lassen. Aber man sollte dieses Argument selbstverständlich nicht dazu missbrauchen, die Pflege der Tiere zu vernachlässigen. Im Terrarium oder Teich muss täglich (wenn das Wetter es zulässt) gefüttert werden. Tiefgefrorene ganze Fische, meist handelt es sich um Stinte (Osmerus eperlanus), sind das optimale Futter, dazu gibt man käufliches Trockenfutter für Wasserschildkröten, Regenwürmer, grobes Frostfutter für Fische (Rote Mückenlarven, Mysis, Gammarus, Muschelfleisch etc.).
Die Aktivitätsperiode der Europäischen Sumpfschildkröte in Deutschland ist so kurz und die natürlichen Futterressourcen im Terrarium oder Teich so eingeschränkt, dass andernfalls keinerlei Überlebenschance besteht. Spätestens im Winter reichen die Fettreserven nicht aus und das Tier stirbt. Wegen der kurzen Sommer ist die Dauer der Eientwicklung mit ca. 70 Tagen (für Schildkrötenverhältnisse) ziemlich kurz und die Jungtiere wirklich winzig, etwa so groß wie ein Daumennnagel (2 cm Panzerlänge). Jede Elster holt sich diese appetitlichen Happen, wenn man sie lässt. Darum ist die Pflege in großen, rundum vergitterten Meerschweinchenkäfigen in den ersten Lebensjahren optimal, worin die Tiere allerdings nicht überwintern können. Ein Einfrieren überstehen sie niemals! Sobald Nachtfröste drohen, überführt man die Schildkröten darum in einen Kühlschrank bei 5°C. Die Überwinterung erfolgt in Wasser. Der Wasserstand muss dabei etwa das 1,5-fache der Panzerbreite betragen. Um Verpilzungen vorzubeugen, ist auf weiches Wasser mit einem pH-Wert zwischen 6 und 6,5 zu achten. Man erreicht dies durch die Verwendung von vollentsalztem (im Handel als destilliertes Wasser zum Bügeln oder für Autokühler zu kaufen) Wasser, das man mit Leitungswasser mischt, bis eine Gesamthärte von 6-8°dH erreicht ist. Man gibt pro Tier ein Erlenzäpfchen in die Überwinterungsschale, das senkt den pH-Wert, wirkt gegen Pilze und schädliche Bakterien. Am besten überwintert man jedes Exemplar in einem eigenen Behälter, da es andernfalls in der Enge der Gefäße leicht zu unnötigen Verletzungen der Tiere durch die scharfen Krallen von Mitinsassen kommt.
GANZ WICHTIG: Emys ertrinken sehr leicht. Es muss – ganz besonders vor und nach der Winterruhe, darauf geachtet werden, dass die Tiere leichte Ausstiegsmöglichkeiten haben!
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Während der Aufzucht ist darauf zu achten, dass die Tiere nicht überhitzen können. Der prallen Sonne schutzlos ausgesetzt sterben sie sonst sehr schnell. Am besten vermeidet man das, indem man Schwimmpflanzen in den Aufzuchtbehälter einbringt. Froschbiss (Hydrocharis morsus-ranae), er ist winterhart, zieht aber im Herbst ein und bildet Überwinterungsknollen, aber auch die tropischen Art Pistia stratiotes eignen sich hervorragend. Sie stirbt allerdings bei den ersten Frösten ab. Als Unterwasserpflanzen nimmt man Wasserpest (Elodea densa) oder Hornkraut (Ceratophyllum demersum). Beide sind winterhart und kommen jährlich wieder.
In geschützten Lagen und bei ausreichend tiefem Wasser (mindestens 1 Meter) kann die Europäische Sumpfschildkröte auch ganzjährig im Freien gepflegt werden. In harten Wintern sterben auch mal ein paar Tiere, aber das ist in der Natur ja auch nicht anders. Eines aber muss man wissen: ist um den Gartenteich keine absolut ausbruchsichere Umzäunung angebracht (und die Tiere klettern exzellent!) wandern die Europäischen Sumpfschildkröten ab, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Und das braucht unsere gebeutelte Natur nun wirklich nicht auch noch. Ein Aussetzen oder „Auswildern“ kommt auf keinen Fall in Frage!
Frank Schäfer
Literatur
Fritz, U. (2000): Verbreitung, Formenvielfalt und Schutz der Europäischen Sumpfschildkröte Emys orbicularis (L.). Stapfia 69 Neue Folge Nr. 149: 13-20
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Fritz, U., Guicking, D. Lenk, P., Joger, U. & M. Wink (2004): When turtle distribution tells European history: mtDNA haplotypes of Emys orbicularis reflect in Germany former division by the Iron Curtain. Biologia, Bratislava, 59/Suppl. 14: 19—25
Kinzelbach, R. (1988): Die Europäische Sumpfschildkröte (Emys orbicularis) im Einzugsgebiet des Rheins. Zeitschrift Angewandte Zoologie Berlin 75(4): 385-419.
Mertens, R. (1947): Die Lurche und Kriechtiere des Rhein-Main-Gebietes.
Sommer, R. S., Linfqvist, C., Persson, A., Bringsoe, H., Rhodin, A. G., Schneeweiss, N., Siroky, P., Bachmann, L. & U. Fritz (2009): Unexpected early extinction of the European pond turtle (Emys orbicularis) in Sweden and climatic impact on its Holocene range. Molecular Ecology 18, 1252–1262
Winkel, S. (2001): Reinheimer Sumpfschildkröten erhalten hessischen Pass. Jahrbuch Naturschutz in Hessen 6: 239-247
Winkel, S. & M. Kuprian (2011): Artensteckbrief für die Europäische Sumpfschildkröte (Emys orbicularis orbicularis). HESSEN-FORST Servicezentrum Forsteinrichtung und Naturschutz (FENA) Europastr. 10 – 12, 35394 Gießen, 12pp
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Echt wissenswerte Seite. Ich beschäftige mich auch mit diesen tollen Tieren. ?
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