Zu den guten alten und stets faszinierenden Geschichten über den Bitterling gehört die über das Zusammenleben des Fisches mit Süßwassermuscheln zum gegenseitigen Vorteil. Der Bitterling (Rhodeus amarus) legt seine Eier in die Atemhöhle des Weichtiers wo sie sich, gut geschützt vor allen Feinden, prächtig entwickeln. Im Gegenzug heften sich die Larven der Süßwassermuscheln (auch als Glochidien bekannt) an den Fisch und werden so verbreitet.
Wir alle sind mit dieser Geschichte groß geworden. Nun, bereiten Sie sich auf eine Enttäuschung vor! Denn Bitterling und Muschel leben keineswegs in Symbiose, sondern der Bitterling ist schlicht und ergreifend ein Parasit an Süßwassermuscheln.
In einer wissenschaftlichen Arbeit eines Teams aus Belgien, Russland, Kanada und England (siehe Literatur) wird gesagt, der Mythos um den Bitterling begann 1938 mit einer Arbeit von Boeseman et al., in der vermutet wurde, das Verhältnis von Bitterling und Muschel sei von gegenseitigem Vorteil. Aber das war lediglich eine Hypothese und wurde nie überprüft. Trotzdem wurde diese These kritiklos übenommen und wieder und wieder wiederholt, bis man sie schließlich für die Wahrheit hielt. Aber dem ist nicht so!
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Aktuelle Studien zeigten, dass zumindest bei Populationen in West- und Mitteleuropa von Gegenseitigkeit keine Rede sein kann. Bitterlinge werden kaum von Glochidien erfolgreich infiziert während die Bitterlingsembryonen den Wirt schädigen.
Es wird vermutet, dass der Schaden durch den Sauerstoffbedarf der Bitterlingslarven hervorgerufen wird. Außerdem scheint ihre schiere physische Anwesenheit einen negativen Effekt auf die Filtrationswirkung der Muschelkiemen zu haben. Zusätzlich wächst eine mit Bitterlingen infizierte Muschel langsamer und ist weniger fruchtbar.
Diese Form des Zusammenlebens ist also alles andere als von gegenseitigem Vorteil. Tatsächlich hat nur der Bitterling, der Parasit, etwas davon, während nicht erkennbar ist, wo der Vorteil für die Muschel liegen soll. Aber es gibt auch Belege dafür, dass die Intensität des Parasitismus durch den Bitterling in Abhängigkeit von der geografischen Population variiert, bzw., um präziser zu sein, davon, wie lange das Bitterling-Muschel-Verhältnis bereits existiert. Das wiederum hängt von den Populationsschwankungen ab, denen der Bitterling im Laufe der Zeiten immer wieder unterworfen war. Das war in früheren Zeiten häufig durch Klimaschwankungen ausgelöst, in West- und Mitteleuropa zwischen den 1960er und 1980er Jahren aber auch durch die katastrophale Umweltverschmutzung. Die gegenwärtige Verbreitung des Bitterlings folgte vermutlich über Jahrhunderte der Einbürgerung des Karpfens (Cyprinus carpio) zu Speisezwecken durch den Menschen.
Wo Bitterlinge und Muscheln schon lange koexistieren, scheint sich eine Art Gleichgewicht zwischen ihnen eingestellt zu haben. Dort können sich die Bitterlinge mit Glochidien infizieren (wenn auch weniger als andere Fische) und die Muscheln können einen Teil der Bitterlingseier abstoßen. Wo aber Bitterlinge erst seit relativ kurzer Zeit vorkommen, wie in Westeuropa, sind sie reine Parasiten. Die Muscheln können keine Bitterlingseier abstoßen und die Bitterlinge infizieren sich nicht mit Glochidien.
Durch zahlreiche Umweltveränderungen gingen in vielen Gebieten die Bitterlingsbestände zurück. Das führte zu nationalen und internationalen Schutzgesetzen für die Art. Tatsächlich ist der Bitterling aber eine invasive Art, die sich bei günstigen Umweltbedingungen sehr rasch ausbreiten kann. So stellt sich die Frage, wie Schutzgesetze für diesen Fisch gerechtfertigt werden können, zumal sich die Art seit etwa 1980 wieder ausbreitet?
Wenn der Bitterling weiterhin streng geschützt wird – so sagen manche – könnten die Muschelpopulationen in Gefahr geraten, besonders dort, wo ihre Lage bereits bedenklich ist. Vielleicht hat die Welt-Artenschutz-Union (IUCN) recht, wenn sie den Bitterling als “Least Concern” (= geringste Bedenken) listet. Diese Kategorie wird vergeben für Arten, die “Gegenstand von Untersuchungen sind, aber weder als kritsch gefährdet, gefährdet, verletzlich oder nahe der Ausrottung eingestuft werden. Hierher gehören weitverbreitete und häufige Arten.”
Zu guter Letzt: die Namen Rhodeus amarus (Europäischer Bitterling) und R. sericeus (Amurbitterling) wurde oft durcheinander benutzt. Kürzlich durchgeführte molekulare Studien in Kombination mit morphologischen Untersuchungen durch Bohlen et al. (2006) zeigten, dass es sich wohl um zwei separate Arten handelt. Doch gibt es eine Menge einander sehr ähnlicher Bitterlinge, die ganz offensichtlich einen Artenkomplex bilden. Hier ist noch viel Untersuchungsarbeit zu leisten und bis dahin bleibt die Klassifikation von Bitterlingen ein schwieriges Gebiet.
John Dawes
Literatur
Bohlen, J., Slechtová, V., Bogutskaya, N. and Freyhof, J. (2006): Across Siberia and over Europe: phylogenetic relationships of the freshwater fish genus Rhodeus in Europe and the phylogenetic position of R. sericeus from the River Amur. Molecular Phylogenetics and Evolution 40, 856–865.
Van Damme, D., Bagutskaya, N., Hoffmann, R. C. & C. Smith (2007): The introduction of the European bitterling (Rhodeus amarus) to west and central Europe. Fish and Fisheries, 8, 79-106.
Boeseman, M., Van Der Drift, J., Van Roon, J., Tinbergen, N. and Ter Pelkwijk, J. (1938): De bittervoorns en hun mosselen. De Levende Natuur 5, 129–136