1983 – ich hatte gerade mein Abitur gemacht – erfüllte ich mir einen Traum und reiste in die Tropen. Sumatra sollte es sein, die geheimnisvolle, riesige Sundainsel. Die Studienkollegin einer Bekannten meiner Mutter war dorthin gezogen, nach Padang, Provinz-West-Sumatra. So hatte ich eine Anlaufstation und kündigte mich mittels zweier Luftpostbriefe an. Internet und E-Mail gab es ja noch nicht; Isolde war sehr hilfsbereit und ihr Mann – Han, er arbeitete als Dozent an der Uni – heuerte einen meinem schmalen Geldbeutel angepassten Studenten als Führer für mich an, denn ich sprach kein indonesisch und mit englisch kam ich in ländlichen Gegenden nicht weiter. Der Student hieß Sam.
Da mein Etat, wie gesagt, sehr begrenzt war – ich hatte 6 Wochen lang in einem Möbelhaus hauptsächlich Küchen aufgebaut, das dabei erwirtschaftete Geld musste für Flug und alle anderen Kosten ausreichen – reisten wir auf Sumatra mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Einer der Sammelpunkte am Brackwasser blieb mir bis heute in lebhafter Erinnerung.
Nachdem wir, von der zentralen Busstation in Padang aus gesehen, „rechts raus“ keinen der ursprünglich von mir gesuchten Labyrinther gefunden hatten, beschloss ich, es am nächsten Tag „links raus“ zu probieren. Sam setzte uns in den entsprechenden Kleinbus und ab ging es entlang der Küstenstraße. So etwas ist übrigens nichts für schwache Mägen, denn diese Küstenstraße geht in wüsten Serpentinen mal bergauf und mal bergab. Darüber hinaus sitzt man ziemlich gedrängt in diesen immer voll besetzten Fahrzeugen. Es handelt sich um Kombi Wagen mit drei Sitzbänken in Fahrtrichtung und einer mit dem Rücken zum Fahrer. Den Rekord, den ich miterlebte, waren 20 (in Worten: zwanzig!) Personen im Fond. Unter Berührungsängsten darf man da nicht leiden! Dafür war es aber billig. Das Mobil hält überall an der Strecke, um Leute aufzunehmen oder zu entlassen.
Will man aussteigen, schreit man wild und möglichst laut „bingir“, dann stoppt die Mühle. Das scheint allerdings Indoslang zu sein, denn auf hochindonesisch heißt „stoppen“ berhenti. Sollten Sie, liebe Leser, also mal irgendwo in indonesischen Bussen „bingir“ rufen und man bringt, statt anzuhalten, Bier mit Eiswürfeln, probieren Sie es halt mal mit berhenti.
Ich kannte weder bingir noch berhenti am ersten Bach, an dem wir vorbeifuhren und in dem ich fischen wollte, weshalb ich dieses Mal auf Sams Sachverstand vertrauen musste, dem ich erklärt hatte, was für einen Biotop ich suchte. Der schrie bingir an einer Stelle, wo besagter Bach träge in eine Brackwasserzone floss. Dort gedachte ich eigentlich nicht zu fischen, denn erstens trat ich sofort beim Aussteigen in einen Kuhfladen, zweitens stank die Brühe gewaltig nach den Geschwistern dieses Fladens und drittens hatte ich mit Brackwasserfischen bis dahin nichts am Hut. Doch dann sah ich die Fänge der Knaben, die daselbst angelten, und erkannte sie als Anabas, den Kletterfisch. Das war nun erstens einer der von mir gesuchten Labyrinther, zweitens bei uns praktisch nicht zu haben und drittens war mir bis dahin nicht bekannt, dass diese Art ins Brackwasser geht (ich gestehe: ich hoffte auf eine phantastische neue Farbvariante.)
Also bastelten Sam und ich uns aus dem Koran, gemeint ist nicht das religiöse Werk, sondern die Padangsche Tageszeitung selbigen Namens, jeder einen Sonnenhut und machten uns ans Fischen. Das erwies sich allerdings als nicht einfach. Die ersten Tiere, die wir sichteten, waren Meeräschen (Liza sp.). Sofort war meine Begeisterung geweckt, denn solche Tiere kannte ich bereits von früheren Urlauben an der französischen Atlantikküste. Die Pflege der kleinen Meeräschen, die ich mit nach Hause brachte, hatte mir viel Freude gemacht, bis eine Krabbe beschloss, sich diese Tierchen zum Abendmahl zu kredenzen. Im Verhalten erinnern Meeräschen an Bärblinge der Gattung Danio. Ständig spielen sie munter im freien Wasser. Leider unterschieden sich die indonesischen Meeräschen nicht nur in ihrer Herkunft von den französischen. Sie ließen sich kaum fangen und waren, gelang es doch, derart geschockt, dass sie häufig noch im Netz einem Herzkasper erlagen. Schade, denn die Tiere wären im Aquarium sicher sehr interessant gewesen.
Doch mittlerweile hatte ich Blut geleckt. Denn es gab nicht nur diese heiklen Geschöpfe, sondern auch viele verschiedene, oft bunte oder interessant geformte Grundeln wie die Spitzkopfgrundel Butis sp., wunderschöne Rotstirn-Argus (Scatophagus argus), Schützenfische (Toxotes sp.), Halbschnabelhechte (Zenarchopterus sp.), die unvermeidlichen Gemeinen Hechtlinge, Aplocheilus panchax, Kaninchenfische, Siganus vermicularis, Süßwassernadeln, Reisfische, Oryzias spec., Kugelfische, Dichotomyctere nigroviridis, ein Krötenfisch, Antennarius sp. ging auch ins Netz, dazu Krabben, Garnelen, massenweise Krötenkaulquappen (Duttaphrynus melanostictus) und dann war da noch der herrliche Schnapper Lutjanus argentimaculatus.
Der ungewöhnliche Mix aus Süßwasser- und Meeresfischen ist es, der den Reiz des Brackwassers ausmacht. Brackwasserzonen sind äußerst nährstoffreich, denn die meisten Süßwasserorganismen, die ins Salzwasser geraten, sterben ab, genau wie viele Meeresorganismen, die ins Süßwasser geraten. Und das passiert in großem Umfang zweimal täglich während Ebbe und Flut. Darum sind die Brackwasserzonen die Kinderstube vieler Korallenfische, denn draußen im Riff gibt es kaum etwas zu fressen. Viele Meeresfische sind als Jungtiere euryhalin, können also frei zwischen Meer und Süßwasser pendeln, wozu sie ein besonderer physiologischer Anpassungsmechanismus befähigt.
Insgesamt verbrachten wir drei Tage am Brackwasser. Der Grund war der Schnapper. Den wollte ich unbedingt haben. UNBEDINGT! Aber der ließ sich nicht so ohne weiteres fangen. Die kleinen, etwa 3-4 cm langen Tiere lebten zwischen Wurzeln der Palmen am Ufer und nur mit viel Geduld, List und Tücke konnte man sie erwischen. Am ersten Tag sahen wir sie bloß. Am zweiten fingen wir in 9 Stunden nur ein Exemplar. Am dritten Tag waren es fünf! Ich war selig! Man muss dabei bedenken, dass ich damals nicht die leiseste Ahnung hatte, um welche Fischart es sich handelte und wie groß sie werden würde. Ich dachte, es handele sich um eine Art Nanderbarsch und dass die Tiere kaum größer als 10 cm würden. Heute weiß ich, dass Lutjanus argentimaculatus satte 150 cm lang werden kann (wenngleich Tiere über 80 cm Länge äußerst selten sind), ihr wunderschönes Jugendkleid einem einfarbigen, dreckigen Rot weicht und erwachsene Tiere nur im Meer leben.
Aber, wie gesagt, das ahnte ich alles nicht. Ich träumte von einer wundervollen Zuchtgruppe, einem Erstimport, vielleicht sogar einer neuen Art! Am Abend des dritten Tages gingen wir daran, die Fische zu verpacken. Den Tag über hatten wir die Tiere in flachen Plastikschüsseln gehältert und halbstündlich das Wasser gewechselt. Die kostbaren Schnapper sollten einzeln gepackt werden. Ich bat Sam, mir die Tasche mit weiteren Plastikbeuteln zu holen, die wir etwas weiter vom Ufer entfernt abgestellt hatten, da die Tüten, die wir am Ufer hatten, aufgebraucht waren. Da war erst ein Schnapper eingepackt. Sam verstand nicht, was ich wollte. Also ging ich selbst los. Das interpretierte der gute Sam aber leider völlig falsch; er dachte offenbar, ich würde zum Aufbruch blasen. Ich bekomme heute noch eine Gänsehaut am Rücken, wenn ich an den lauten Platsch denke, mit dem Sam die Schüssel mit den übrigen Fischen zurück in das Wasser schüttete. Über die Szene, die folgte, sei Schweigen bewahrt, ich sage nur so viel: Rumpelstilzchen war ein Dreck dagegen!
Im Nachhinein war es aber wohl ganz gut so. Die kleinen Schnapper erwiesen sich im Padanger Leitungswasser als nicht haltbar und verstarben. Ich wollte darum am Ende der Reise, vier Wochen später, nochmals an der Stelle im Brackwasser fischen. An den drei Tagen, die ich dafür eingeplant hatte, gelang es mir allerdings nicht, auch nur ein einziges Exemplar zu fangen…
Frank Schäfer
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