Wer kennt sie nicht, die kleinen Einsiedlerkrebse an den Küsten des Mittelmeers, des Atlantiks und des Schwarzen Meeres, die den Schneckengehäuse-Sammlern immer wieder schrille Schreie entlocken, wenn das vermeintlich leere Schneckenhaus plötzlich Beine bekommt und mehr oder weniger energisch versucht, sich aus der Hand zu befreien? An den feinsandigen Nordseestränden von Zeeland in Holland passiert das aber sehr, sehr selten, u.a., weil man nur wenige Schneckenhäuser im Spülsaum findet. Wir sind gerade in Westenschouwen in Zeeland und dort findet man zwar massenhaft leere Muschelschalen – Herzmuscheln, Klaffmuscheln, Austern, Messermuscheln, Miesmuscheln usw. – aber kaum Schneckenhäuser. Warum wohl?
Es gibt m.W. keine wissenschaftlichen Untersuchungen darüber, aber der Verdacht liegt nahe: man findet so wenig Schneckenschalen, weil sie schon jemand vor uns gefunden hat. Natürlich gibt es an Sandstränden auch nur vergleichsweise wenige Schnecken, da diese überwiegend Hartsubstrate besiedeln. Aber für bestimmte Landeinsiedlerkrebse (Coenobita) ist tatsächlich – und das ist wissenschaftlich bewiesen – die Anzahl der verfügbaren Schneckenhäuser der wichtigste limitierende Faktor für die Populationsgröße.
Die eingangs erwähnten kleinen Einsiedler des Mittelmeeres und Schwarzen Meeres gehören gewöhnlich zur Gattung Clibanarius, sind tagaktiv und treten in großen Mengen auf. Wer jedoch tagsüber in den Ebbetümpeln von Westenschouwen nach Einsiedlerkrebsen sucht, der findet nur ab und zu welche. Nimmt man solch ein Tierchen mit nach Hause und setzt es in ein Meerwasseraquarium mit Sandboden, verschwindet es rasch – es gräbt sich ein! Abends, wenn es dämmert, kommen im Freien und im Aquarium die kleinen Einsiedler heraus und krabbeln herum. Bei Sonnenuntergang findet man sie vor allem im Spätsommer (September) in den Ebbetümpeln auf einmal massenhaft (5-6 Exemplare pro Quadratmeter). Jetzt wird auch klar, warum man kaum Schneckenhäuser findet: die, die zur Verfügung stehen, werden von den kleinen Einsiedlern besetzt und durch Einbuddeln unseren Augen entzogen.
Der kleine Schneckenhausbesetzter heißt wissenschaftlich Diogenes pugilator und kann von allen anderen Einsiedlerkrebs-Arten in der Nordsee leicht unterschieden werden, denn bei D. pugilator ist die linke Schere vergrößert, bei allen anderen die rechte. Links und rechts unterscheidet man bei einem Einsiedlerkrebs, indem man von oben auf ihn schaut, wobei der Kopf nach vorne gerichtet ist. Bei den anderen 6 Arten der Nordsee, von denen allerdings nur 3 regelmäßig vorkommen, ist die rechte Schere größer als die linke. Diogenes pugilator ist weit im Atlantik verbreitet. Von der Küste Angolas in Afrika bis in den Norden der Nordsee, außerdem im Mittelmeer und Schwarzen Meer. Durch den Suez-Kanal ist er sogar ins Rote Meer eingewandert.
Sein wissenschaftlicher Name erinnert an den griechischen Philosophen Diogenes von Sinope, der zumindest zeitweise in einer Tonne gehaust haben soll; eine schillernde Gestalt, berühmt für den Spruch „geh mir ein wenig aus der Sonne“, den er angeblich äußerte, als Alexander der Große ihn fragte, ob es etwas gäbe, das er für ihn tun könne. Und ein Pugilator ist ein Faustkämpfer/Boxer im antiken Rom. Als Polydore Roux die Art 1829 unter dem Namen Pagurus pugilator beschrieb, nahm er wohl an, die vergrößerte linke Schere diene Auseinandersetzungen mit Artgenossen oder der Feindabwehr. Heute geht man davon aus, dass die vergrößerte Schere dem Knacken von kleinen Muscheln etc. dient, vielleicht auch der innerartlichen Kommunikation, aber Boxen tun die Krebse nicht damit, soviel ist sicher.
Wissenschaftlich ist die Art ganz gut untersucht. Sie ist in wärmeren Regionen ganzjährig fortpflanzungsfähig, in den darauf untersuchten Populationen überwog der Weibchenanteil. Männchen und Weibchen sind, wie bei allen Einsiedlerkrebsen, nicht unterscheidbar, wenn sie in ihren Schneckenhäusern sitzen. Dazu müssen sie heraus, was sie freiwillig nicht tun. Ohne wissenschaftlichen Anspruch wäre eine solche Untersuchung darum als Tierquälerei einzustufen und ist zu unterlassen. Weibchen haben am Hinterleib zusätzliche Beine, an denen die Eier angeheftet werden. Die Weibchen tragen die Eier mit sich herum, bis daraus die typische Zoea-Larve (ausgesprochen in getrennten Vokalen, also Zo-e-a, nicht etwa wie mit Umlaut Zö-a) schlüpft, die frei schwimmend im Plankton lebt, sich räuberisch ernährt und nach mehreren Häutungen zur so genannten Megalopa-Larve wird. Dieses ist das letzte Larvenstadium; die Krebse sehen im Megalopa-Stadium schon fast wie fertige Einsiedler aus, jedoch ist der Hinterleib noch „normal“, ähnlich wie bei einem Flusskrebs (nur viel kürzer), entwickelt. Im Megalopa-Stadium gehen die Tiere zum Bodenleben über. Nach einer letzten Häutung ist der Hinterleib Einsiedler-typisch gekrümmt, mit den Haltebeinchen ausgestattet, die ein rasches Einziehen in das Schneckenhaus ermöglichen – kurz: der Einsiedler ist fertig entwickelt und kann von nun an ohne Schneckenhaus kaum noch überleben.
Über eine erfolgreiche Zucht im Aquarium ist m.W. noch nicht berichtet worden, sie ist aber sicher möglich. Die Weibchen werden schon sehr früh geschlechtsreif: bereits mit einer Schild-Länge von 0,6 mm wurden eiertragende Weibchen gefunden (Manjón-Cabeza & Raso, 2000a), histologische (also an präpariertem Gewebe) Untersuchungen zeigten, dass Männchen vermutlich bei einer ähnlich geringen Größe geschlechtsreif werden, sicher aber ab einer Schild-Länge von 1 mm (Manjón-Cabeza & Raso, 2000b). Die Schild-Länge ist die Strecke des Rückenschilds in Draufsicht, gemessen vom hinteren Rand der Augenstiele bis zu dessen Ende. Die maximale Schild-Länge beträgt bei D. pugilator etwas über 5 mm (5,3 mm). Die Eizahl schwankt zwischen 9 und 2838 pro Weibchen, die Eigröße ist weitgehend konstant (artspezifisch) und hängt nicht von der Größe des Weibchens ab. Die optimale Fortpflanzungsgröße der Weibchen scheint bei einer Schild-Länge von 2,1 – 2,3 mm zu liegen, davor und danach sind sie weniger produktiv (Manjón-Cabeza & Raso, 2000a).
Zoea-Larven reagieren positiv phototaktisch, lassen sich also in einem Lichtkegel konzentrieren. Man ernährt sie mit frisch (!) geschlüpften Artemia-Nauplien. Bei einer Wassertemperatur von 22-25°C entwickelt sich die nahe verwandte Art Diogenes nitidimanus über 4 Zoea-Stadien zur Megalopa in 22 Tagen (Korn et al., 2008). Die Laboraufzucht erfolgte in 250 ml fassenden Kleinbehältern, die mit natürlichem, mittels UV-Licht sterilisierten und gefilterten Seewasser gefüllt sind, bei einer Larvendichte von 1 Exemplar pro 10 ml und täglichem 100%igen Wasserwechsel. Unter Hobbybedingungen wird man wohl zum Aufzuchtkreisel greifen, das ist schon arbeitsintensiv genug. Ein Aufzuchtkreisel ist in etwa ein senkrecht installiertes, breites, unbewegliches Rad, in dem man durch an geeigneter Stelle angebrachte Lufteinspeisung eine kreiselnde Wasserbewegung erzeugt. Die darin gehaltenen Organismen kommen dadurch nicht mit der Wandung des Gefäßes in Berührung. Solche Kreisel haben sich zur Aufzucht von Plankton-Stadien von Fischen und Wirbellosen, aber auch zur Dauerhaltung von z.B. Quallen sehr bewährt. Bei der Aufzucht in solchen Kreiseln muss man vor allem darauf achten, dass sich kein Schmutz oder Algen an den Innenwänden ansetzen, man muss sie also am besten täglich mit einem Pinsel reinigen.
Seltsamerweise scheint aber noch niemand Diogenes pugilator für längere Zeit im Aquarium beobachtet zu haben, obwohl die Pflege wirklich problemlos ist. Anders ist kaum zu erklären, warum eine der bemerkenswertesten Verhaltensweisen des Tierchens noch nie (soweit ich das beurteilen kann) beschrieben wurde: das Filtrieren mittels der federartig behaarten Antennen! Die meisten Klein-Einsiedler, wie die oben erwähnten Clibanarius, sind die unermüdlichen Straßenkehrer im Aquarium. Sie sind stets unterwegs und fressen alles, was ihnen an totem organischen Material in die Scheren gerät, egal ob pflanzlichen oder tierischen Ursprungs. Man kann sie also völlig problemlos mit Futtertabletten etc. ernähren. Lebende Tiere werden nicht angenagt, das ist vor allem bei der gemeinsamen Pflege mit festsitzenden Tieren, wie Seeanaemonen, Korallen, Seescheiden, Schwämmen etc. bedeutungsvoll.
So weit, so gut, so wird das Verhalten von Diogenes pugilator im Aquarium ebenfalls beschrieben. Aber hat denn nie jemand hingesehen, was diese Tierchen machen, wenn sie eingegraben sind? Dann strecken sie nämlich ihre Antennen aus dem Sand und fischen Mikro-Organismen aus dem Wasser, so wie es ihre entfernten Verwandten, die festsitzenden Seepocken tun. Einmal mehr zeigt sich, dass es sich lohnt, jedes noch so banale und alltägliche Klein-Viech erst einmal mit nach Hause zu nehmen und es zu beobachten, denn nur dann werden seine Eigenheiten offenbar.
Bleiben Sie neugierig und aufgeschlossen!
Frank Schäfer
Literatur:
https://www.meerwasser-lexikon.de/tiere/5779_Diogenes_pugilator.htm
Korn, O. M., Kornienko, E. S. & K. Tomoyuki (2008): A reexamination of adults and larval stages of Diogenes nitidimanus (Crustacea: Decapoda: Anomura: Diogenidae). Zootaxa 1693: 1–26
Manjón-Cabeza, M. E. & J. E. G. Raso (1998): Population structure and growth of the hermit crab Diogenes pugilator (Decapoda: Anomura: Diogenidae) from the northeastern Atlantic. Journal of Crustacean Biology 18 (4): 753-762
Manjón-Cabeza, M. E. & J. E. G.Raso (2000a): Reproductive aspects of females of the hermit crab Diogenes pugilator (Crustacea: Decapoda: Anomura) from southern Spain. Journal of the Marine Biological Association of the United Kingdom, 80(1): 85-93.
Manjón-Cabeza, M. E. & J. E. G. Raso (2000b): Morphological reproductive aspects of males of Diogenes pugilator (Roux, 1829) (Crustacea, Decapoda, Anomura) from southern Spain. Sarsia, 85(3): 195-202.
Roux, P. (1828-1830): Crustacés de la Méditerranée et de son Littoral, decrits et lithographiés. Paris, Marseille: 284 pp