Mit dem Begriff Mimikry bezeichnet man in der Biologie ein Phänomen, bei dem zwei unterschiedliche Tierarten einander nachahmen. Das heißt, sie sehen sehr ähnlich oder fast identisch aus, gehören aber ganz verschiedenen Arten an. Mimikry ist im Tierreich weit verbreitet und ein sehr spannendes Phänomen, das zu erforschen ein ganzes Biologenleben nicht ausreicht. Zwei Arten von Doktorfischen ahmen in ihrer Jugend Zwergkaiserfische nach. Von ihnen erzählt diese Geschichte.
Doktorfische sind in der Meeresaquaristik sehr beliebt. Es sind meist bunt gefärbte Fische, die sich vorzugsweise von Algen ernähren. Darum werden manche Arten sehr gerne in Riffaquarien gepflegt, wo sie lästigen Algenwuchs kurz halten. Aber auch in reinen Fischaquarien sind es faszinierende Pfleglinge. Keine der 82 Arten, die sich auf sechs Gattungen verteilen, betreibt Brutpflege. Alle Arten laichen im freien Wasser ab, die winzigen, kaum 1 mm großen Eier treiben anschließend im Plankton, wo sich auch die Larven entwickeln. Als Plankton bezeichnet man alle Lebewesen, die frei im Wasser schweben und sich passiv von Strömungen bewegen lassen. Die Lebensweise im Plankton bezeichnet man als planktonisch.
Doktorfischlarven sind glasartig durchsichtig und haben merkwürdige Stacheln und Fortsätze. Man nennt die Larven von Doktorfischen „Acronurus-Larven“, weil man früher glaubte, es handele sich um ganz andere Fische, die man eben Acronurus nannte. Erst später erkannte man, dass es sich dabei lediglich um Larven der Dokorfische handelte.
Bis zu einer Länge von drei bis sechs Zentimetern treiben die glasartigen Acronurus im Plankton des freien Meeres und werden mit Strömungen umhergetragen. Erst nach etwa 10 Wochen entwickelt sich eine Färbung und die Tiere verlassen das Plankton, und führen von da an für den Rest ihres Daseins eine bodenorientierte Lebensweise. Das Fachwort dafür lautet: benthische Lebensweise, es ist das Gegenteil von planktonischer Lebensweise. Durch die lange planktonische Phase erklärt es sich, warum Doktorfische meist ein riesiges Verbreitungsgebiet haben.
Jugendfärbung? – Kaum!
Bei vielen, vor allem den kleineren Doktorfischarten gibt es nur wenig bis gar keine Abweichungen der Jugendfärbung zum Farbkleid der Erwachsenen. Es gibt allerdings Ausnahmen, etwa bei dem Nashornfisch Naso brevirostris oder dem Augenstreifen-Doktor, Acanthurus dussumieri; beide Arten werden ziemlich groß (um 50 cm), ihnen wollen wir einen eigenen Artikel widmen. Auch andere Doktorfische können als Jungfisch erheblich anders als die Erwachsenen aussehen, doch die allermeisten Arten lassen zumindest erkennen, wie sie später einmal aussehen werden.
Umso erstaunlicher ist es, dass zwei Arten von Doktorfischen, die man Mimikry- oder Schokoladendoktorfisch nennt, eine extrem abweichende Jugendfärbung haben, in der sie Zwergkaiserfischen farblich zum Verwechseln ähnlich sind. Diese beiden Doktorfisch-Arten heißen Acanthurus pyroferus und A. tristis.
Wer macht da wen nach?
Als erwachsene Fische sehen sich die beiden Doktoren ziemlich ähnlich und wurden bis 1993 auch der gleichen Art zugeordnet. Acanthurus pyroferus ist im Indo-Westpazifik sehr weit verbreitet, A. tristis ist hingegen auf den Indischen Ozean beschränkt, wo er von den Malediven und Indien bis nach Bali lebt. In Teilen des Verbreitungsgebietes, etwa bei Bali, kommen beide Arten auch gemeinsam vor. Jugendliche A. tristis sehen aus wie der Zwergkaiserfisch Centropyge eibli, A. pyroferus gleicht sogar mindestens drei unterschiedlichen Zwergkaisern: Centropyge flavissimus, C. heraldi und C. vrolikii. Dazu gibt es eine Jugendfärbung von A. pyroferus, die keiner bislang bekannten Zwergkaiserfisch-Art gleicht (siehe Debelius & Kuiter, 2001: 37).
Nun ist zunächst die Frage zu stellen, wer wen imitiert: die Doktoren die Zwergkaiser oder umgekehrt? Die Frage ist aufgrund zweier Indizien so zu beantworten: die Doktoren imitieren die Kaiser. Indiz eins: A. pyroferus imitiert mehrere Kaiserarten. Indiz zwei: die Zwergkaiser behalten ihr Farbkleid zeitlebens, während die Doktoren sich als erwachsene Fische grundlegend umfärben.
Wozu dient die Mimikry?
Zunächst erscheint die Mimikry der Doktorfische sinnlos. Denn Zwergkaiserfische sind nicht giftig oder in sonstiger Weise gefährlich. Eine Mimikry, wie sie z.B. völlig harmlose Schwebfliegen zeigen, die giftige Wespen oder Bienen nachahmen, ist es also nicht. Zudem ernähren sich beide Fische – Doktoren und Zwergkaiser – ähnlich. Beide fressen Aufwuchs, wobei bei den Zwergkaisern noch ein gewisser Plankton-Anteil hinzukommt. Die Zwergkaiser leben in Haremsverbänden, die aus einem Männchen und einem bis mehreren Weibchen bestehen. Dabei reagieren Zwergkaiser-Männer territorial gegenüber Artgenossen. Ein Mimikry-Doktor muss also sogar damit rechnen, von einem der imitierten Fische angegriffen zu werden. Wozu also der Aufwand?
Die Antwort auf das Rätsel scheint in der Lebensgeschichte der Zwergkaiser zu liegen. Ihr Ablaichverhalten ähnelt im Großen und Ganzen dem der Doktorfische: die Geschlechtsprodukte werden frei ins Wasser abgegeben, die Larven entwickeln sich im Plankton. Aber – und jetzt kommt der entscheidende Unterschied – Zwergkaiser verwandeln sich viel früher und mit etwa zwei Zentimetern Länge zum rifflebenden Fisch.
Eine Jugendfärbung gibt es bei Zwergkaisern kaum, manche Arten haben einen Augenfleck (Ocellus), der den Erwachsenen fehlt, aber das war es auch schon. Zwergkaiserfische gehören zu den cleversten Riffbewohnern und verschwinden blitzschnell in ihrem Versteck, wenn ihnen etwas nicht geheuer ist.
Der Vorteil der Mimikry für die Doktoren liegt darin, dass die Raubfische in einem Gebiet, in dem die Zwergkaiser vorkommen, schnell lernen, dass es sich kaum lohnt, auf diese flinken Tiere Jagd zu machen. Die wesentlich weniger flinken Doktorfische profitieren also, wenn sie mit rund vier Zentimetern Länge im Riff ankommen, davon, dass Raubfische kaum Energie darauf verschwenden, Jagd auf sie zu machen, da die Räuber „glauben“, es handele sich um relativ alte und entsprechend gewitzte Zwergkaiserfische. Faszinierend, nicht wahr?
Im Aquarium
Sowohl die Mimikrydoktoren wie auch die Zwergkaiserfische sind ausgezeichnete Aquarienfische. Die Zwergkaiser sollte man paarweise oder im Trupp pflegen, sie werden etwa 8 cm lang. Die Mimikry-Doktoren erreichen eine Maximallänge von etwa 20 cm, werden also auch nicht riesig. Sie fressen besonders gern die von anderen Fischen meist verschmähten schlammigen Kieselalgen. Füttert man gut und reichlich, sind auch erwachsene Mimikry-Doktoren paarweise pflegbar, nur wenn sie knapp im Futter gehalten werden, reagieren sie aggressiv auf Artgenossen.
Man setzt bei ausgewachsenen Doktoren am besten zwei Tiere gleichzeitig ein, die deutlich unterschiedlich groß sind. Besonders Acanthurus pyroferus ist erwachsen ein prachtvoller Fisch. Da in Riffaquarien aus Rücksicht auf die Wasserqualität oft zu knapp gefüttert wird, empfiehlt sich die Pflege großer Mimikry-Doktoren eher in Fischaquarien, wo die Wasserbelastung eine untergeordnete Rolle spielt. Hier fressen die Mimikry-Doktoren problemlos viele Ersatzfuttersorten. Einem erwachsenen Acanthurus pyroferus kann man übrigens nicht ansehen, welchen Zwergkaiser er als Jungfisch imitiert hat. Es bleibt ein spannendes Forschungsfeld, herauszufinden, wie die Anpassung an die verschiedenen Zwergkaiser-Arten funktioniert. Handelt es sich bei den Schokoladen-Doktorfischen vielleicht um einen Artenkomplex verschiedener Spezies, die sich nur durch die Jugendfärbung unterscheiden? Oder liegen der Angelegenheit komplexe Erbmechanismen zugrunde? Man weiß es nicht!
Frank Schäfer
Lexikon Mimikry-Doktorfische
Acanthurus: bedeutet ”Stachelschwanz”; pyroferus: bedeutet ”wilde Birne”; tristis: bedeutet ”traurig”; Centropyge: bedeutet ebenfalls ”Stachelschwanz”; eibli: Widmungsname für den Biologen Iräneus Eibl-Eibesfeld; flavissima: bedeutet ”der Allergelbste”; heraldi: Widmungsname für Earl S. Herald, Leiter des Steinhardt Aquariums; vrolikii: Widmungsname für den Naturforscher W. Vrolik
Literatur
Debelius, H. & R. H. Kuiter (2001): Doktorfische und ihre Verwandten. Acanthuroidei. Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart, 208 pp, 800 Fotos.
Luty, A. (1999): Doktorfische. Lebensweise – Pflege – Arten. Dähne Verlag, Ettlingen, 96 pp
Randall, J. E. (1955): A revision of the surgeon fish genus Acanthurus. Pacific Science 10: 159-235
Randall, J. E. (2005): A review of mimicry in marine fishes. Zoological Studies 44 (3): 299-328
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